Was geschah in Bethlehem?
Predigt zur Namensgebung der Friedrichsorter Kirche
Bethlehem! - Jedem, der diesen Namen hört, muss das Herz weit werden. Eine Welt tut sich auf vor uns, und Erinnerungen steigen auf, die sich gar nicht so schnell in Worte fassen lassen. Bethlehem - wie schön, dass eine Kirche in Kiel nun diesen Namen hat.
An einem solchen Tag, an dem wir in uralte Erinnerungen Israels und der Kirche einsteigen, aber auch ganz persönliche Erinnerungen beschwören (denn Bethlehem heißt ja Krippe und Weihnachten und irgendwie Elternhaus und Kindheit), muss die Predigt eine besondere Gestalt haben. Sie soll heute nur erzählen und erinnern und alte Geschichten in die Zukunft fort- und vorausschreiben als Segensbitte für diese Gemeinde und alle
Gäste dieses Hauses.
Aber zugleich erhofft sich der Prediger, dass sich das als eine Predigt mit „Schulaufgaben“ erweisen wird, nämlich als eine Einladung, Verlockung, die alten Geschichten von Bethlehem, die ich nur andeuten kann, zu Hause
einmal in Ruhe nachzulesen und miteinander zu bedenken. Und eine Einladung passt ja gut zu einer Kirche, denn eine Kirche ist ein Haus, in das eingeladen wird. So soll es bei der Bethlehem-Kirche auch sein. Also fangen
wir an. „Es begab sich aber ...“
Was begab sich denn, wenn wir die Bibel aufschlagen, zuerst in und bei Bethlehem? Es ist eine traurige, wehmütige Geschichte. Als Jakob vor seinem Tode seine Enkel segnete, da erinnerte er sich: „Es starb mir Rahel auf der Reise, und ich begrub sie dort am Wege nach Ephrata, das nun Bethlehem heißt“ (Genesis 48, 7). Heute steht da noch das Grab der Rahel, Jakobs Lieblingsfrau, und fromme Juden - Männer wie Frauen - beten in großer
Andacht am Grab der Urmutter. Und die Weisen Israels fragen: Warum musste es gerade ihr widerfahren, dort einsam am Wegrand begraben zu werden und nicht mit ihrem Mann und den anderen Erzvätern in der Höhle Machpela in Hebron? Und die Antwort heißt: Weil Jakob im Geiste sah, dass einst an dieser Stelle die Elendstrecks der Kinder Israels, die in die Verbannung und Sklaverei getrieben wurden, vorbeiziehen würden. Und da sollte Rahel am Wege sein und liebevoll Fürbitte für sie tun, wie eben eine Mutter tut. (Siehe: Genesis 35, 16 - 20)
Bethlehem - Ein Ort der Fürbitte mitten in Grausamkeit und im Leid der Welt. Und eben das soll im mütterlichen Geist der Rahel auch geschehen in dieser Kirche und soll nicht nachlassen und nicht müde und mutlos werden.
Zweitens: Und dann kam eines Tages eine Frau nach Bethlehem, die war eine Fremde - und eine Witwe dazu. Ruth hieß sie und folgte in stiller Treue ihrer Schwiegermutter in ein fremdes Land. Und auf dem Hirtenfeld von Bethlehem fand sie einen neuen Mann, einen neuen Anfang. Das ist eine der schönsten Geschichten den Bibel. Und Ruth, die unbeachtete, stille Fremde, wurde die Urgroßmutter des Königs David, und der Evangelist Matthäus
nennt sie ausdrücklich im Stammbaum Jesu. (Ruth 1, 1 - 4, 22; Matthäus 1, 5)
Und auch diese Geschichte soll sich in dieser Kirche und Gemeinde immer wiederholen: Barmherzigkeit und Gastfreundschaft, Annahme der Fremdlinge und neuer Anfang für alle. Dann wird Gott auch hier seine Überraschungen geschehen lassen. Im übrigen erinnere ich daran, dass sich die uralte Geschichte von Naemi, Ruth und Boas gerade hier in Friedrichsort in den Jahren nach dem Kriege hundertfach neu ereignet hat. Wir denken in Dankbarkeit daran.
Drittens. Die Generationen vergingen, und eines Tages kam ein Prophet, ein Führer in Israel, nach Bethlehem: Samuel. Er suchte das Haus des Isais, des Enkels der Ruth. Er sollte dort einen König salben, denn Gott hatte den ersten König Israels, Saul, verworfen. Eigentlich war alles zu Ende. Aber Gott wollte auch hier, was er immer wieder will bis heute: Neuen Anfang aus seinem guten und gnädigen Willen. Aber Samuel musste noch viel lernen über Gottes Art und Sichtweise. Samuel wollte ganz selbstverständlich den ältesten und größten Sohn Isais salben. Aber der sollte es nicht sein. Und die nächsten auch nicht. Und Samuel musste als Gottes Wort hören: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an“ (1. Samuel 16, 7). Und dann wurde David vom Hirtenfeld geholt, der Jüngste, der beinahe Vergessene, und zum König gesalbt. (Siehe: 1. Samuel 16, 1 - 13)
Bethlehem - der Ort, an dem der Mensch in der Sicht Gottes erscheint und gesehen wird und an dem unter Gottes Augen unsere Einteilungen zweitrangig, fragwürdig, trügerisch werden. Und auch das soll in diesem Haus ständig neu geschehen zu Ermahnung und Trost: Nicht unsere Maßstäbe (Macht, Erfolg, Reichtum, Verbindungen) zählen vor Gott. Und sie dürfen in diesem Hause auch nicht gelten. Der Herr sieht das Herz an, und zwar
so, wie es ist: Schwach, verängstigt, töricht, unwillig zu gehorchen. Er sieht es an und macht uns dann zu Königen, nämlich zu seinen Kindern. Und das geschieht im Gottesdienst - hier in der Bethlehem-Kirche.
Und wieder vergingen Jahre. - David war auf der Flucht vor Saul. Er zog gleichsam als Partisanenführer durchs Land mit einer Handvoll verwegener Männer. Sie lagerten auf einer Höhe bei Bethlehem. David war durstig - und da lag in Sichtweite seine Heimatstadt Bethlehem. Die hatte einen Brunnen mit klarem, kühlem Wasser. Und David sprach: „Wer will mir Wasser zu trinken geben aus dem Brunnen am Tor zu Bethlehem?“ „Am Brunnen vor dem Tore ...“ - alte Erinnerungen wurden in ihm wach. Vielleicht hatte er diesen Wunsch nur so träumerisch vor sich hin gesagt. Aber seine Männer liebten, vergötterten ihren Anführer. Und drei von ihnen schlichen sich in das von Philistern besetzte Bethlehem und brachten David, dem durstigen und heimwehkranken David, Wasser vom Brunnen am Tore.
David aber trank nicht, sondern goss das Wasser auf die Erde als ein Trankopfer für Gott den Herrn und sagte: „Das sei ferne von mir, dass ich etwas annehme, was meine Männer unter Lebensgefahr geholt haben. Das wäre ja, als tränke ich ihr Blut.“ (Siehe: 2. Samuel 23, 13 - 17)
In der Bethlehem-Kirche soll herrschen der Geist der Achtung, der Liebe, der Zuneigung unter denen, die im Dienst miteinander verbunden sind. Voller Einsatz füreinander und, wie Paulus sagt, „dass einer den anderen höher achte als sich selbst“ - das gehört auch zu einer rechten Bethlehem-Gemeinde.
Ja, und dann die Geschichte, an die wir zuerst denken, wenn wir Bethlehem hören: die Geschichte der Heiligen Nacht. Die brauche ich ja wohl nicht zu erzählen. An diesem armseligen Ort - über einem Stall und über einem Hirtenfeld - tat sich der Himmel auf. Und das ist nicht mehr rückgängig zu machen. (Siehe: Lukas 2, 1 - 20)
Es soll in dieser Kirche bleiben das Staunen an dem Wunder, die Vorfreude, die Dankbarkeit. Es soll hier nicht (wie heute in allzu vielen Kirchen) gepredigt werden die Angst und die Feigheit und die Anpassung (alles sehr fromm eingehüllt). In der Bethlehem-Kirche soll gepredigt werden die zentrale Botschaft der Nacht von Bethlehem: „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude.“ Die Kirche hat die Freude anzusagen und nicht den Weltuntergang.
Freilich: Man kann die eine Geschichte von Bethlehem zur Weihnacht, die von der Christgeburt, nicht haben ohne die andere, die vom Kindermord zu Bethlehem. Noch einmal, so sagt der Evangelist Matthäus, ist das Wehe- und Fürbittgeschrei der Rahel zu hören über ihre Kinder, als Herodes zuschlug. Auch das ist Bethlehem: Ohnmacht und Angst der Unschuldigen und Wehrlosen. (Matthäus 2, 16 - 18)
Und in dieser Kirche soll sein: Zuflucht für Verfolgte und Gequälte, aber auch tapfere Beugung im Glauben vor dem Unbegreiflichen, Trost und immer wieder Fürbitte, die sich darauf verläßt, dass der Sieger nie Herodes heißt.
Und nun bin ich noch nicht am Ende (aber gleich) mit meinen Bethlehem-Geschichten und meinen Wünschen für diese Kirche. Da ist nämlich noch der 25. Dezember des Jahres 1100. An diesem Tage wurde in der Geburtskirche von Bethlehem der erste König von Jerusalem, der erste Kreuzfahrerkönig, gekrönt: Balduin I. Sein Bruder, Gottfried von Bouillon, der als Anführer der Kreuzfahrer ein Jahr vorher Jerusalem erobert hatte, wollte nicht König sein, nur Schutzherr des heiligen Grabes. Auch Balduin wollte sich nicht da zum König krönen lassen, wo der Herr eine Dornenkrone empfangen hatte. Wer darf sich nach Jesus König von Jerusalem nennen? So fand die Krönung zu Weihnachten in Bethlehem statt. Die Kreuzzüge sind ein dunkles Kapitel der Christenheit und ein helles zugleich. Da ist viel Machtwille und viel Sehnsucht, viel Herrschen und viel Dienen, viel eiskaltes Planen und viel herzwarmes Träumen - wie das so durch die ganze Kirchengeschichte geht. Ich wünsche dieser Kirche, dass in ihr auch immer wieder das Bekenntnis eben zur Kirche geschieht, zu ihrer Geschichte, ihrer Last, ihren kühnen Taten und ihren bösen Irrtümern. Wir sind keine aufgeklärten Besserwisser. Wir stehen auf den Schultern unserer Väter im Glauben. Wir ducken uns nicht vor den hämischen Belehrungen der Außenseiter. Wir beugen uns aber vor dem Herrn der Kirche und sprechen in jedem Gottesdienst sehr bewußt auch als Kirche: Gott, sei mir Sünder gnädig.
Und nun die letzte Geschichte, eigentlich nur eine Erinnerung. Diese Kirche hat dem Namen nach eine Vorläuferin: Die Bethlehemskapelle in Prag. Dort predigte in der Volkssprache (damals gar nicht so selbstverständlich) seit 1402 Johannes Hus. Wir wissen: 1415 hat ihn die Kirche auf dem Konzil zu Konstanz als Ketzer verbrannt. Uns gilt er als Vorläufer der Reformation. Auch er sagte (und bezeugte es mit seinem Tod): Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Das Wort Gottes, die heilige Schrift, hatte ihn überwältigt. Nur sie galt für ihn. Einer seiner Sätze, für die er, als Ketzer verurteilt, in die Flammen ging, hieß: „Jede Tat, die nicht in der Liebe getan wird, ist Sünde.“ Diese kühne, wagemutige Freiheit hat er auch in der Bethlehemskapelle zu Prag verkündigt. Er hat den höchsten Preis dafür bezahlt.
Und wir übernehmen mit diesem Namen eine hohe Verpflichtung. Hier soll ein Ort des Mutes sein, der Verkündigung, die die Liebe über alles stellt und die bereit ist, für die eigene Verkündigung einzustehen ohne jede Anpassung.
Das waren die Bethlehem-Geschichten der Schrift und der Kirchengeschichte. Gott gebe, dass wir sie fortschreiben, immer neu wahr machen und dem neuen Namen dieser Kirche Ehre machen durch unseren Dienst.
Propst Rumold Küchenmeister
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